Wirtschaftskriminalität – was geht mich das an?

Was haben die aktuellen Fälle S&KP&R und (ganz frisch) Allianz gemeinsam? Sie alle sind Beispiele für potentielle Wirtschaftskriminalität – neudeutsch (wenn auch nicht umfassend) häufig „Fraud“ genannt. Aber selbst wenn sich – gerade wieder im Zuge der Ermittlungen bei VW-Diesel-Skandal – derartige Anglizismen auch in der Presse häufen, so ist dieser Bereich im deutschen Mittelstand eher unterbeleuchtet, wie folgende Anekdote veranschaulichen mag:

Im Rahmen einer Compliance Veranstaltung fragte einer der Redner, ob das sog. „Fraud Triangle“ bekannt sei. Aus dem vielleicht einhundert Teilnehmer umfassenden Publikum hoben sich zögerlich nur drei oder vier Hände. Wenn schon dem eigentlich als fachkundig einzuschätzenden Publikum diese Grundkenntnis fehlt, so meine ganz eigene Conclusio, wie soll dann ein mittelständischer Geschäftsleiter überhaupt eine wirtschaftskriminelle Handlung in seinem eigenen Unternehmen oder von einem seiner Kunden oder Lieferanten erkennen? Grund genug, einmal einige Basics in diesem Bereich darzustellen.

Hintergrund

Wie schon eingangs bemerkt, ist der Bereich der Wirtschaftskriminalität mit Anglizismen befrachtet. Das liegt auch daran, dass sich außerhalb der Welt der Staatsanwaltschaften und Strafverteidiger in Deutschland bis vor zwanzig Jahren eigentlich niemand  für Wirtschaftsstrafrecht interessierte. Die Skandale, die es immer schon gab, wie etwa Balsam oder Flowtex, wurden von den staatlichen Strafverfolgungsbehörden aufgeklärt (oder auch nicht?) und das Leben ging weiter. Demgegenüber hat sich in den USA schon früh ein eigener Wirtschaftszweig der privaten Strafverfolgung gebildet. Dies lag zu einem Teil auch daran, dass sich Firmen, die im Rahmen von sog. „Internal Investigations“, also internen Ermittlungen, den Sachverhalt selbstständig aufarbeiteten und ihre Ergebnisse mit der Staatsanwaltschaft teilten, von teils horrenden Strafen und Schadenersatzforderungen zumindest zum Teil freikaufen konnten. Spätestens mit dem Siemens-Skandal Mitte der 2000er Jahre begannen – im wahrsten Sinne des Wortes – amerikanische Verhältnisse Einzug in die deutschen Kriminalermittlungen zu halten. Bekannte US-Kanzleien wurden auf Weisung US-Börsenaufsicht (SEC), aber im Auftrag von Siemens zur Aufklärung des Skandals tätig. Auch im aktuellen Diesel-Skandal muss sich Volkswagen in einer ähnlichen Konstellation ebenfalls von einer US-Kanzlei durchleuchten lassen.

Wegen der chronischen Überlastung der Wirtschafts-Staatsanwaltschaften ist allerdings mittlerweile die Zuziehung privater Ermittler und Anwälte zum Zwecke der Aufklärung von Straftaten (sog. „Forensic Services“) und Rückholung von Vermögenswerten (sog. „Asset Tracing“ und „Asset Recovery“) im deutschen Mittelstand angekommen. Dies auch vor dem Hintergrund der internationalen Verflechtung deutscher Firmen, die nicht nur sprachliche, sondern auch ermittlungstechnische Grenzen für staatliche Ermittler aufzeigen und die (deswegen) zunehmende Komplexität der Fälle. Problematisch ist allerdings, dass die Firmen bildlich gesprochen, häufig erst das „Gatter schließen, wenn der Stier ausgebrochen ist.“ Sprich, solche Ermittlungen werden erst in Auftrag gegeben, wenn die Staatsanwaltschaft schon – wiederum bildlich gesprochen – auf den Hof geritten kommt.

Begrifflichkeiten

Weiter geht es mit den Anglizismen: So ist z.B. der eingangs verwandte Begriff des „Fraud“ nur teilweise synonym mit dem des „Betruges“, denn die Bedeutung dieses Terminus doch wesentlich weiter: Die Association of Certified Fraud Examiners (ACFEhier geht es zur deutschen Seite) unterteilt in ihrem Jahresbericht 2018 (dort Seite 10, der sog. „Fraud Tree“) „Fraud“ in drei Kategorien: „Corruption“ (Bestechung / Bestechlichkeit), Asset Misappropriation (Vermögensunterschlagung, Untreue, Diebstahl) und „Financial Statement Fraud“ (betrügerische Finanzdarstellungen). PricewaterhouseCoopers (PwC) ergänzt diese Definition noch um die Straftaten der Geldwäsche, Industrie- und Wirtschaftsspionage sowie Verstöße gegen Marken- und Patentrechte. KPMG versteht unter Wirtschaftskriminalität die Tatbestände Diebstahl und Unterschlagung, Betrug und Untreue, Korruption, Kartellrechtsverstöße, Verrat von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen, Verletzung von Schutz- und Urheberrechten, Datendiebstahl und -missbrauch, Manipulation jahresabschlussrelevanter Informationen sowie Geldwäsche.

Die polizeiliche Definition der Wirtschaftskriminalität orientiert sich dagegen an der prozessualen Zuordnung bestimmter Delikte zu den Wirtschaftsstrafkammern, wie sie in § 74c Abs. 1 Nr. 1 – 6 GVG vorgesehen ist. Die Unterscheidung, was denn nun unter „Wirtschaftskriminalität“ zu fassen ist, hat nicht nur semantische Bedeutung: Je nach Definition ist natürlich die statistische Relevanz des jeweilig abgegrenzten Themenfeldes größer oder kleiner.

Statistische Relevanz

Was uns zu der Eingangsfrage zurückbringt – was geht mich (als Geschäftsführer, Gesellschafter, Unternehmer eines mittelständischen Unternehmens) „Fraud“ überhaupt an? Sehr viel, so die kurze Antwort. Die etwas längere Antwort geben diverse statistische Erhebungen zu diesem Thema:

Während in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) die Wirtschaftskriminalität eher am Rande abgehandelt wird, sind die Stellungnahmen im „BKA Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität“ mehr als eindeutig:

  • „Die durch die Wirtschaftskriminalität verursachten Schäden belaufen sich auf über 50 % des Gesamtschadensvolumens aller in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfassten Straftaten.“
  • „Der Anteil der Wirtschaftskriminalität an allen polizeilich bekannt gewordenen Straftaten betrug 0,9 % (2015: 1,0%).“
  • „Dieses unterstreicht trotz der festgestellten rückläufigen Entwicklung der statistischen Daten in einigen Teilbereichen der Wirtschaftskriminalität ihr gleichbleibend hohes Schadens- und Gefährdungspotenzial.“

Auch den vermeldeten statistischen Rückgang der letzten Jahre würde ich vor dem Hintergrund einer 94%igen Aufklärungsquote und der damit schon fast zwangsweise verbundenen hohen Dunkelziffer eher mit Vorsicht genießen. Für eine gleichbleibend hohe Rate der Wirtschaftskriminalität spricht auch die KPMG-Studie, die für die Jahre 2014 bis 2016 davon ausgeht, dass mehr als jedes dritte der befragten Unternehmen von Wirtschaftskriminalität betroffen (36 Prozent) war, von den großen Unternehmen sogar fast die Hälfte (45 Prozent).

Laut der PwC / Uni Halle Wittenberg-Studie zur Wirtschaftskriminalität berichteten 40 Prozent der Firmen, sie seien innerhalb der vergangenen 24 Monate zumindest einmal Ziel einer sog. CEO-Fraud-Attacke gewesen – in fünf Prozent der Fälle hatten die Kriminellen dabei Erfolg.

Aber auch Wirtschaftsspionage dürfte in Zukunft einen größeren Raum nicht nur bei der Berichterstattung in den Medien einnehmen. So berichtet Corporate Trust, dass Know-how-Verlust durch Spionage oder sonstigen Informationsabfluss nach wie vor ein großes Problem für deutsche Unternehmen darstelle. Nur weniger als die Hälfte der Unternehmen (45,3 %) konnten bestätigen, dass ihr Unternehmen in den letzten drei Jahren nicht Opfer eines solchen Vorfalls wurde. Bei 29,1 Prozent gab es einen konkreten Know-how-Verlust. 25,6 Prozent wussten es nicht und hatten damit vermutlich keine ausreichenden Kontrollmöglichkeiten im Unternehmen, um einen Spionageangriff überhaupt feststellen zu können.

Relevanz für den deutschen Mittelstand

Als Quintessenz schon aus dieser Handvoll statistischer Daten kann man auch als Laie relativ leicht ableiten, dass Wirtschaftskriminalität ein umfassendes Phänomen wirtschaftlichen Handelns ist, dass jedes Unternehmen in unterschiedlicher Ausprägung und Härte treffen – und damit auch zu einer wirtschaftlichen Krise des Unternehmens führen kann. Eine Auseinandersetzung mit diesem Phänomen gehört also zum Pflichtenkreis jedes Geschäftsleiters.

Über die statistische Relevanz hinaus sollten Unternehmensleiter mit internationalen Geschäftsbeziehungen auch die Anti-Korruptionsgesetze der USA (Foreign Corruption Practices Act, FCPA) und Großbritanniens (Bribery Act) beachten. Beide anglo-amerikanischen Rechtssysteme neigen dazu, ihre gerichtliche Zuständigkeit schon bei geringen Berührungspunkten mit dem jeweiligen Rechtssystem anzunehmen – und empfindliche Strafen bei Fehlverhalten auszusprechen.

Auch wenn die Beratungen über die Einführung eines Unternehmensstrafrechts in Deutschland (wieder) relativ am Anfang stehen (s. dazu hier), so kann auch die Ahndung von Straftaten durch das Ordnungswidrigkeitenrecht zu empfindlichen Geldbußen führen, wie der Siemens-Fall mit einer Buße von Euro 395 Mio. wirkungsvoll belegt (s. hier).

Das Fraud Triangle

Zur Abrundung dieses kurzen Überblicks komme ich zurück auf das eingangs genannte, etlichen Compliance Officern eben nicht bekannte, „Fraud Triangle“. Geschäftsführer sollten ein Grundverständnis für die geistige Haltung von „Fraudstern“ entwickeln, um Warnzeichen für kriminelle Handlungen im Unternehmen besser erkennen zu können. Hierzu gibt das „Fraud Triangle“ eine Hilfestellung. Dieses relativ einfache, gleichwohl in der Praxis häufig benutzte, Schema wurde von Donald R. Cressey bereits 1953 entwickelt:

„Fraud Triangle“

 fraud-triangle

Dabei ist die…

Gelegenheit: die grundsätzliche Möglichkeit, eine kriminelle Handlung zu begehen, ohne ertappt zu werden.

Motiv(ation): Nach Cressey war hier vor allen Dingen ein finanzielles Problem erforderlich, dass den Täter zur Tat trieb, auch weil das Problem aus Sicht des Täters geheim gehalten werden musste. Aus heutiger Sicht werden hierunter aber auch nicht-finanzielle Motive erfasst, wie z.B. ein (aus welchen Gründen auch immer) aus Sicht des Täters gefährdeter Status.

(Innere) Rechtfertigung: Der Täter kann durch der inneren Rechtfertigung sein Selbstbild als „rechtschaffenes Mitglied der Gesellschaft“ vor sich selber aufrechterhalten. Typische Beispiele hierfür sind „ich leihe mir das Geld nur“ oder „Der Chef hat es nicht besser verdient“.

Stellt der Geschäftsleiter Indizien für wirtschaftskriminelle Handlungen im Unternehmen fest und kann an Hand des „Fraud Triangle“ vielleicht sogar schon Anhaltspunkte über Täter und/oder Vorgehensweise ermitteln, so sollte er – schon zur Vermeidung oder zumindest Reduzierung von Geldbußen (s. zu letzterem hier) – unverzüglich (dokumentierte!) Schritte zur Aufklärung einleiten. Nur so kann ggf. ein durch die Straftat bewirkter Schaden minimiert, vielleicht sogar Vermögenswerte zurückgeholt werden.

 

PKS Bundeskriminalamt, 2017

BKA Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität, 2016

ACFE, REPORT TO THE NATIONS, 2018

PwC/Universität Halle-Wittenberg, Wirtschaftskriminalität 2018

KPMG, „Tatort Deutschland“, Wirtschaftskriminalität 2016

Corporate Trust, Future Report, 2018

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